Donnerstag, 24. November 2016

Die Erlkönigin

Die Chefin vom Reitstall hat ein ganz klares Menschenbild.
  1. Einen Lebensberechtigungsschein haben nur Leute, die Privatpferde in ihrem Stall stehen haben und selbst auf ihnen reiten. 
  2. Leute, die auf (sowieso inakzeptablen) Schulpferden reiten lernen, werden zähneknirschend toleriert, weil sie Geld bringen, aber richtige Menschen sind sie eigentlich nicht. 
  3. Leute, die Bodenarbeit machen, haben automatisch jedes Lebensrecht verwirkt. 
  4. Menschen wie ich, die aufgrund der Großzügigkeit einer *siehe 1* auf einem Privatpferd lernen dürfen, existieren praktisch nicht und die *siehe 1* läuft Gefahr, sich wegen ihrer bedenkenswert sozialromantischen Ader in Kategorie 2&3 zu katapultieren.

Das hat zur Folge, dass wir auf die guten Plätze oder in die Halle nur dürfen, wenn niemand in der Nähe ist. Also verschwinden wir auf irgendwelche Randplätze, die tagsüber Aufenthaltsorte für Pferde sind, weil die doch lieber in einer Herde an der frischen Luft ihre Freizeit verbringen anstatt blöde in der Box zu stehen. 

Diese Randplätze sind nicht beleuchtet und da beginnt in dieser Jahreszeit das Dilemma. Ich komme in der beginnenden Dämmerung an und versuche affenartig schnell, mit dem satteln zurande zu kommen, aber da sich meine Idee mit den Klettverschlüssen noch nicht durchgesetzt hat, dauert es Stunden und bis ich endlich im Sattel sitze, ist die halbe Nacht rum. 

Die Trainerin, die mir jede Stunde Neues abverlangt und vor allem die Dinge, vor denen mir am meisten graut, lässt mich allein bis zum Randplatz in Timbuktu reiten, geht nur neben mir her, während ich quasi meinen ersten Ausritt ins Gelände mache. Das hatte ich eigentlich erst in fünf Jahren vor. Beunruhigt nehme ich zur Kenntnis, dass eine Wildschweinrotte die gesamte Wiese vor dem Platz vertikutiert hat. Die sind also irgendwo in der Nähe.

Kaum bin ich auf dem Platz, verlässt mich die Trainerin und stellt sich draußen vor den Zaun. Ich mutterseelenallein mit dem 600 Kilo Brummer unter mir. Es ist 18.45 Uhr, jeder weiß, wie dunkel es dann schon ist. Tapfer reite ich Runde um Runde, Volte um Volte und ich bin tatsächlich tapfer, denn der Brummer ist gedanklich längst im Feierabend und zeigt das nicht eben subtil.

Selbst als er wirklich sauer wird und den Kopf wild nach unten und oben schlägt (normalerweise holt er sich so den nötigen Schwung fürs angaloppieren) und ich meine Mühe und Not habe, die Zügel in der Hand zu behalten, bleibe ich schön sitzen und versuche weiter, ihn zum traben zu bringen, aber nach fünf Schritten geht er wieder im Schritt. Nichts zu machen. Kein Wunder, nachtschwarz ist es inzwischen.

"Du willst es einfach nicht und das merkt er, deshalb macht er's auch nicht", tönt es aus der Dunkelheit über den Zaun rüber. Wohl will ich traben, aber ich seh nichts mehr, das Pferd sieht nichts mehr - das kann uns niemand vorwerfen. 

Auf dem Rückweg zum Stall greift die Trainerin nach den Zügeln und gibt mir Anweisungen für das, was jetzt eventuell passiert. Es sei nämlich dunkel und da sei ein Pferd schreckhaft und falls jetzt... soll ich einfach tief im Sattel sitzen bleiben. Hä?

"Du machst mir ja Mut!"
"Naja, er kann hier nichts mehr sehen auf dem Weg und falls irgendwas aus dem Busch kommt... ich will dich ja nur vorbereiten."

Hallo? Ich bin eben eine Stunde in völliger Finsternis allein auf dem Platz geritten, da konnte es sich nicht erschrecken?

Nächste Woche schnalle ich mir eine Grubenlampe um und um das Pferd drapiere ich eine Lichterkette.

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